Du bist über 60 und merkst: Irgendwas ist anders als früher. Mehr Frauen als Männer in der Arztpraxis. Mehr Freunde und Freundinnen, die allein wohnen. Mehr Tabletten auf dem Nachttisch. Mehr Apps, die du eigentlich nicht verstehst, aber irgendwie brauchst, um einen simplen Termin zu machen.
Du denkst vielleicht, das ist nur dein persönliches Erleben. Ist es aber nicht.
Warum das so ist? Weil sich fünf große strukturelle Dinge in deinem Alter verschieben. Demografen nennen das "Merkmale des Alterns". Ich nenne es: die Realität, in der wir jetzt älter werden.
Ich habe einen Master in Integrierter Gerontologie und beschäftige mich seit Jahren mit Menschen, die sich zwischen dem Wechsel in den Ruhestand und Lebensende befinden. Mein Fachgebiet ist der demografische Wandel und das Gelingende Altern zu Hause - also genau das, was du gerade erlebst.
Und ich weiß: Das, was dir komisch vorkommt, passiert nicht nur dir.
Es sind viel mehr fünf konkrete Veränderungen, die alle treffen, die heute älter werden.
Das Gute daran: Wenn du verstehst, was läuft, kannst du klügere Entscheidungen treffen. Über dein Wohnen, deine Gesundheit, deine sozialen Kontakte, dein Geld.
In diesem Artikel zeige ich dir die fünf Merkmale des Alterns in Deutschland – mit echten Zahlen aus aktuellen Studien und vor allem: mit dem, was das konkret für dich bedeutet. Du erfährst:
- warum im Alter mehr Frauen als Männer allein leben (und was das für deine Planung heißt)
- warum Einpersonenhaushalte explodieren und was das für soziale Kontakte bedeutet
- was Multimorbidität wirklich ist und wie du damit umgehst
- warum immer mehr Menschen 90+ werden und was diese Lebensphase so anders macht
- warum ohne Smartphone plötzlich vieles nicht mehr geht
Viele kennen diese Zusammenhänge nicht. Sie erleben es nur. Aber wenn du das große Bild siehst, kannst du besser damit umgehen.
Auf geht's.
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1. Die Feminisierung des Alters
Wenn du dir so Menschen in deinem Alter und älter im Alltag anschaust, dann fällt dir eins sofort auf: Da sind deutlich mehr Frauen als Männer. Und das hat einen einfachen Grund – Frauen leben länger.
Frauen werden in Deutschland durchschnittlich 83,2 Jahre alt, Männer nur 78,5 Jahre. Das sind fast fünf Jahre Unterschied, und das klingt vielleicht nach nicht viel, aber schau dir mal an, was das praktisch bedeutet: Ende 2024 lebten 1,0 Millionen Männer und 1,9 Millionen Frauen über 85 Jahre in Deutschland – also fast doppelt so viele Frauen. Und bei den Menschen, die 100 Jahre oder älter werden, sind 85 Prozent weiblich.
Was das für dich bedeutet:
Wenn du eine Frau bist: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass du Jahre allein leben wirst. Dass du deinen Partner überlebst. Dass du Entscheidungen über Wohnen, Geld und Gesundheit ohne ihn treffen musst. Es lohnt sich daher, sich frühzeitig mit diesen Themen auseinander zu setzen.
Wenn du ein Mann bist: Du hast statistisch weniger Lebensjahre. Aber die gute Nachricht ist...du kannst auch das noch beeinflussen. Durch deinen Lebensstil, deine Ernährung, deine alltägliche Bewegung, dein Verhalten und nunja...auch, in dem du regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt wahrnimmst.
Das Max-Planck-Institut sagt: Frauen leben gesünder – sie gehen häufiger zum Arzt, trinken weniger Alkohol, rauchen seltener. Und genau das sind auch die Hebel, mit denen Männer ihre Lebensdauer noch beeinflussen können. Es ist nie zu spät, sich selbst um ein gelingendes Altern zu kümmern.
Insgesamt nennt die Forschung das "Feminisierung des Alters". Ich nenne es: Realität, mit der du rechnen solltest.
Du kannst hier mehr darüber lesen:
2. Singularisierung im Alter
Deutschland hat heute 17 Millionen Einpersonenhaushalte – 1991 waren es noch 11,4 Millionen, das ist ein Anstieg von 50 Prozent in drei Jahrzehnten. Und wer wohnt da allein? Klar, auch junge Singles in Berlin, aber die größte Gruppe der Alleinlebenden sind tatsächlich die 55- bis 64-Jährigen. Mittlerweile leben 5,9 Millionen Menschen über 65 Jahren allein – das ist ein Anstieg von 13,5 Prozent in nur 20 Jahren.
Du kennst das aus deinem eigenen Umfeld, oder? Die Nachbarin, deren Mann vor ein paar Jahren gestorben ist. Der Kollege, der sich nach der Scheidung mit Anfang 60 eine kleinere Wohnung gesucht hat. Die Freundin, die nie geheiratet hat und jetzt mit 68 überlegt, wie sie die nächsten Jahre leben will. Allein leben im Alter ist längst keine Ausnahme mehr, sondern für viele Menschen die Realität geworden.
Die praktischen Fragen, die sich daraus ergeben:
Wenn du allein lebst, stellen sich ganz konkrete Fragen:
Ist deine Wohnung für dich allein eigentlich zu groß, zu teuer, zu viele Treppen? Die meisten Wohnungen in Deutschland sind ja für Familien gebaut worden, nicht für Einzelpersonen über 70.
Und dann ist da die Frage: Wer merkt es eigentlich, wenn es dir schlecht geht? Wer fährt dich zum Arzt, wenn du selbst nicht mehr kannst? Wer kauft ein, wenn du drei Tage mit Grippe im Bett liegst?
Soziale Kontakte passieren eben nicht einfach so beim Frühstück oder abends auf dem Sofa – die musst du aktiv pflegen, dir Strukturen schaffen, rausgehen, dich kümmern.
Und dann gibt es noch das Thema Einsamkeit, über das wir viel zu wenig sprechen: Bei den 80- bis 84-Jährigen fühlen sich 8,7 % einsam, bei den über 90-Jährigen sind es schon 22,1 %.
Die Wissenschaft nennt das Singularisierung des Alters. Ich sage: Das ist der Grund, warum Senioren-WGs, Mehrgenerationenhäuser und Nachbarschaftsnetzwerke keine Spinnerei sind. Sie sind eine Antwort auf eine demografische Tatsache. Und es ist wichtig, sich auch nach dem Abschied aus dem Erwerbsleben, um soziale Kontakte zu kümmern. Viel zu oft bleibt eine große Lücke im sozialen Netz, wenn man plötzlich nicht täglich mit den Kollegen und Kolleginnen zu tun hat.
3. Multimorbidität
Hier wird es konkret, denn jetzt geht es um deinen Körper und das, was viele ab 65 erleben: Ab 65 Jahren sind die meisten Menschen multimorbid – das heißt, sie haben drei oder mehr chronische Erkrankungen gleichzeitig. In Deutschland werden 62 % aller Menschen über 65 wegen mindestens drei chronischen Erkrankungen behandelt, das sind fast zwei Drittel.
Die häufigsten Kombinationen kennst du vielleicht aus deinem eigenen Leben oder von Freunden: Bluthochdruck, chronische Rückenschmerzen und Fettstoffwechselstörungen gehen oft Hand in Hand. Oder es ist die Kombination aus Bluthochdruck, Rückenschmerzen und Gelenkarthrose. Oder Diabetes zusammen mit Herzproblemen und chronischen Schmerzen. Kommt dir irgendwas davon bekannt vor?
Das Problem mit mehreren Krankheiten gleichzeitig:
Die Sache ist die: Wenn du mehrere chronische Krankheiten hast, beeinflussen die sich gegenseitig. Diabetes macht deine Herzprobleme schlimmer, Arthrose schränkt deine Bewegung ein, was wiederum deinen Blutdruck erhöht – das ist ein komplexes Zusammenspiel, bei dem eins ins andere greift.
Und dann kommen die Medikamente dazu: Wenn du fünf verschiedene Tabletten nimmst, gibt es mehrere tausend mögliche Wechselwirkungen zwischen diesen Medikamenten. Dein Hausarzt muss da ein Puzzle lösen, bei dem sich jedes einzelne Teil ständig bewegt und verändert.
Das führt dann auch dazu, dass die Arztkontakte explodieren: Multimorbide ältere Patienten haben durchschnittlich 36 Arztkontakte pro Jahr – das ist fast dreimal pro Monat. Dazu kommen im Schnitt 4,7 verschiedene Fachärzte, zwischen denen du dann auch noch koordinieren musst.
Was du tun kannst:
Versteh, dass Multimorbidität normal ist. Fast 60 % der Menschen zwischen 65 und 97 Jahren haben zwei oder mehr Erkrankungen.
Such dir einen guten Hausarzt. Einen, der das große Bild sieht. Einen, der deine Medikamente checkt und nicht einfach bei jedem Problem ein weiteres draufpackt.
Bleib beweglich. Die WHO macht körperliche Inaktivität für über 3,2 Millionen Todesfälle weltweit verantwortlich. Bewegung löst nicht alles. Aber sie verhindert, dass es schlimmer wird.
4. Hochaltrigkeit
Das klingt vielleicht noch nach Science-Fiction, ist aber mittlerweile reine Statistik: Im Mai 2022 waren mindestens 16.800 Menschen in Deutschland 100 Jahre alt oder älter – 2011 waren es noch 13.400 gewesen, das ist ein Anstieg von 25 Prozent in nur elf Jahren. Und Ende 2024 leben etwa 2,9 Millionen Menschen, die 85 Jahre und älter sind.
Hochaltrigkeit – also 85+, 90+, 100+ Jahre zu werden – war früher extrem selten, fast schon eine Sensation. Heute wird es zur Normalität, zu etwas, womit wir alle rechnen müssen.
Was sich in dieser Lebensphase verändert:
Mit 90 Jahren hast du andere Bedürfnisse als mit 70 – dein Körper funktioniert anders, deine Prioritäten verschieben sich, und auch deine sozialen Kontakte sind nicht mehr die gleichen. Gerontologen nennen das "das vierte Alter", und es ist tatsächlich eine eigene Lebensphase mit ganz eigenen Herausforderungen und Möglichkeiten.
Was ich dabei interessant finde: 2002 lebten 57 % der über 90-Jährigen noch in privaten Haushalten, also in ihren eigenen vier Wänden, nicht im Heim. Das ist deutlich mehr, als die meisten Menschen vermuten würden. Aber natürlich steigen mit dem Alter auch die Risiken: Die Einsamkeit klettert auf 22,1 % bei den über 90-Jährigen, die Pflegebedürftigkeit nimmt zu, und auch Demenz wird wahrscheinlicher.
Was das für dich heißt:
Wenn du 60 oder 70 bist: Du wirst wahrscheinlich 85 oder älter. Das ist keine Drohung. Das ist eine Chance. Aber es braucht Planung. Wie willst du mit 90 leben? Wo? Mit wem?
Wenn du 80+ bist: Du bist Teil der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe. Die Gesellschaft muss sich auf dich einstellen. Du hast ein Recht darauf, dass Wohnungen, Verkehrsmittel, Arztpraxen und digitale Dienste auch für dich funktionieren.
5. Mediatisierung des Alters
Willkommen in der Mediatisierung. Oder einfacher: Alles wird digital.
Die Zahlen: Nur etwa ein Drittel der über 80-Jährigen nutzt das Internet. In der Gesamtbevölkerung sind es fast neun von zehn.
Bei den 60- bis 69-Jährigen sieht es besser aus: 79 % sind online. Bei den über 70-Jährigen? Nur 45 %.
Das wäre kein Problem, wenn Internet nur ein Extra wäre. Ein bisschen YouTube, ein bisschen E-Mail.
Ist es aber nicht.
Was heute digital läuft:
Arzttermine: Viele Praxen vergeben Termine nur noch online. Oder per App.
Bankgeschäfte: Filialen schließen. Überweisungen? Online. Kontostand? Online.
Behördengänge: Elektronische Patientenakte. Bürgergeld-Antrag. Steuererklärung über Elster.
Soziale Kontakte: Deine Enkelin schickt Fotos per WhatsApp. Der Sportverein organisiert sich über Facebook. Die Geburtstagseinladung kommt per Google Calendar.
Professor Herbert Kubicek vom Institut für Informationsmanagement Bremen sagt: „20 Millionen ältere Menschen in Deutschland bleiben bei der Digitalisierung auf der Strecke."
Und innerhalb der älteren Generation gibt es eine massive Spaltung: Männer, Menschen mit hoher Bildung und hohem Einkommen sind deutlich häufiger online als Frauen und Menschen mit geringer Bildung und niedrigem Einkommen.
Was du tun kannst:
Wenn du noch nicht online bist: Jetzt ist der Moment. Nicht weil es modern ist. Sondern weil du sonst von grundlegenden Dienstleistungen ausgeschlossen wirst.
Such dir Hilfe. Volkshochschulen bieten Smartphone-Kurse an. Die Bundesregierung fördert digitale Erfahrungsorte, wo du kostenlos lernen kannst.
Wenn du schon online bist: Hilf anderen. Deine Freundin mit dem Klapphandy? Zeig ihr WhatsApp.
Wenn du sicher im Netz bist: Nutz die Chancen. Telemedizin. Online-Banking. Videocalls mit den Enkeln. Das Internet kann dein Leben leichter machen.
Was machst du jetzt mit diesen Informationen?
Fünf Merkmale des Alterns. Fünf große Verschiebungen.
Feminisierung. Singularisierung. Multimorbidität. Hochaltrigkeit. Mediatisierung.
Das sind keine Zukunftsszenarien. Das passiert jetzt. Um dich herum. Mit dir.
Die Frage ist: Was machst du damit?
Du lebst allein? Dann bau dir ein soziales Netzwerk auf, das trägt.
Du hast mehrere Krankheiten? Dann such dir einen Arzt, der das große Bild sieht.
Du bist digital noch nicht fit? Dann ist jetzt der Zeitpunkt.
Du willst 90 werden? Dann überleg dir, wie und wo.
Das ist es, was gelingendes Altern ausmacht: Die Realität sehen. Und dann clever damit umgehen.
Welche Veränderungen erlebst du und wie gehst du damit um? Lass es mich gern in den Kommentaren wissen.
Genieß dein Leben.
Du hast nur eins.
Viele Grüße,
Marlis


